Anarchisten Ein Leser hat den Wunsch ausgesprochen, ich möchte einmal erklären, was unter dem Anarchismus zu verstehen sei. Bei einem Anarchisten denken wir an einen aufrührerischen Menschen, der Mordanschläge auf Könige macht und Paläste in die Luft sprengt, Anarchismus und Gewalttat scheinen uns untrennbar verbunden. Aber das ist falsch. Es gab innerhalb des Anarchismus eine ganz bestimmte Richtung, welche die «Propaganda der Tat>, die fortwährende Beunruhigung der bestehenden Ordnung durch Gewalttaten vertrat. Aber das hat mit dem Gedanken des Anarchismus nichts zu tun. Der Freisinn der vergangenen Jahrhunderte hat Freischarenzüge veranstaltet und schwere Gewalttaten begangen; deswegen fällt es niemandem ein zu sagen, der Freisinn sei untrennbar mit Mord und Brandstiftung verbunden. Genau so ist es mit dem Anarchismus : die Sache selbst hat nichts zu tun mit den Mitteln, die einige Anhänger derselben zur Werbung oder zur Schwächung der Gegner anwenden. Eine viel stärkere Richtung lehnte jede Gewalttat ab. Die meisten und bedeutendsten «Anarchisten» wurden ins Gefängnis geworfen, ohne die geringste Gewalttat begangen zu haben; denn man verfolgte weniger ihre Taten als ihre Gedanken. Dann müssen diese wohl sehr gefährlich sein? Gewiß sind sie es, aber nicht für die Menschheit, sondern für die Nutznießer der bestehenden Ordnung. Anarchie heißt Gewaltlosigkeit, Herrschaftslosigkeit: es soll kein Mensch über den andern herrschen, regieren; es soll kein Mensch gegen seinen Willen einer äußeren Ordnung unterworfen sein. Es soll kein fremder Wille den eigenen freien Willen einschränken. Aber damit ist weder eine allgemeine Unordnung, eine «Anarchie» im schlechten Sinne des Wortes, noch eine schrankenlose Willkür des Einzelnen gemeint. Man soll nicht tun dürfen, was man gerade will, also leben ohne Rücksicht auf den Nächsten. Die Freiheit des Einzelnen findet ihre Schranke an der Freiheit und den Rechten des Nächsten. Was du nicht willst, daß man dir tu', das füg' auch keinem andern zu: dieses Gebot ist für den Anarchisten selbstverständlich; aber er will nicht, daß ein Staat, eine Regierung mit Gesetzen und Polizei es ihm vorschreibe, er will es sich selber vorschreiben. Der Anarchist ersetzt den äußeren Zwang des Staates durch das sittliche Gebot des Einzelnen. Er geht in seinem tiefsten Grunde auf den berühmten «kategorischen Imperativ» des Philosophen Kant zurück: handle immer so, daß der Grundsatz deines Handelns zugleich der Grundsatz eines für alle Menschen verbindlichen Gesetzes sein könnte. Wir sehen: der Anarchismus rührt an die Grundfragen des Staates und der Gesellschaft. Er hat mit seiner revolutionären Krachmacherei nichts zu tun. Ihr fragt: warum besteht keine Gleichheit unter den Menschen? Warum darf der eine regieren, während der andere gehorchen muß? Warum ist der eine wirtschaftlich ein reicher Herr, der andere ein armer Teufel? Wie kann der Einzelne die Freiheit und das Recht seiner Persönlichkeit im Rahmen der ganzen Gesellschaft erhalten? Es geht also um das Verhältnis der Freiheit zur Ordnung. Muß die äußere Ordnung durch einen Staat erzwungen werden, oder kann sie unter Verzicht auf jede Gewalt nur auf dem freien Willen der Menschen beruhen? Schließlich gelangt man zu den letzten und grundlegenden Fragen: ist der Mensch die Hauptsache oder der Staat? Der Anarchist sagt: der Mensch ist die Hauptsache; Staat und äußere Ordnung sind nur soweit berechtigt, als sie der Freiheit und dem Rechte des Menschen dienen. Er steht somit im schärfsten Gegensatz zur heutigen Staatsauffassung, die besonders in der Diktatur ihre letzte und schärfste Ausgestaltung findet, indem sie sagt: der Staat ist die Hauptsache; der einzelne Mensch hat nur insofern ein Daseinsrecht, als er dem Staate und der Volksgemeinschaft dient. Darum hat der Staat das Recht, über die Menschen zu verfügen, ihnen zu befehlen, sie zu bestrafen, wenn sie nicht gehorchen. Die Anarchisten aber stellen sich eine Gemeinschaft, eine «Gesellschaft» vor, in welcher eine sinnvolle Ordnung ohne Staat und Zwang auf dem freien Willen der Einzelnen beruht. Man sieht: dieser geistige Anarchismus hat mit zwecklosen Gewalttaten nichts zu tun. Er ist nur ein Ausschnitt aus der weltgeschichtlichen Auseinandersetzung zwischen Persönlichkeit und Gemeinschaft, Freiheit und Ordnung. Darum trifft man im Anarchismus und seinen Grenzgebieten die hervorragendsten Geister an, sofern man nur an sein Wesen und nicht an seine anrüchig gewordene Bezeichnung denkt. Denn in diesem Sinne sind Goethe (ich laß' einem jeden sein Bestreben, um auch nach meinem Sinn zu leben), Nietzsche (Staat heißt das kälteste aller Ungeheuer), Ibsen (der Staat ist der Fluch des Individuums), Jakob Burckhardt (jede Macht ist böse an sich), Wilhelm von Humboldt und der Philosoph Fichte ebensogut «Anarchisten» wie die revolutionären Anarchisten im eigentlichen Sinne des Wortes. Aber auch unter diesen treffen wir Männer an, an deren Geisteskraft und Kultur die landläufigen Diktatoren und Staatsmänner niemals heranreichen. Ich nenne nur den Franzosen Proudhon, die beiden Brüder Reclus, den russischen Fürsten Krapotkin, der einer unserer edelsten Männer des Jahrhunderts war und seinerzeit natürlich vom Bundesrat des Landes verwiesen wurde, den ebenso berühmten Bakunin, den Freiheitsdichter John Henry Mackay, der vor einigen Jahren in Berlin verhungerte. Zu diesen Anarchisten im tiefsten und edelsten Sinne muß man auch Silvio Gesell, den Begründer der Freiwirtschaft, zählen. Ihnen allen ging es darum, die Freiheit der Persönlichkeit vor den Anmaßungen eines auf Gewalt beruhenden Staates zu schützen. Will dieser Anarchismus von der Theorie zur Praxis übergehen, so steht er vor der wichtigen Frage: wie kann eine Ordnung ohne Gewalt politisch und wirtschaftlich geschaffen werden? Er kommt also zwangsläufig zum Wirtschaftsproblem, zur sozialen Frage. Die Menschen sollen nicht gleich sein, denn sie sind nicht gleich; wie aber kann man es machen, daß alle die gleichen Bedingungen, die gleichen Voraussetzungen zum Leben, die gleichen Möglichkeiten haben? Wie bringt man die Vorrechte zum Verschwinden? Diese entscheidende Frage hat den rein geistig verstandenen Anarchismus in eine Menge verschiedener Strömungen aufgeteilt, wovon einige eine bewußt revolutionäre Ablehnung der heutigen Staaten vertraten. Zu ihnen gehörte besonders der 1876 im Spital zu Bern gestorbene Russe Bakunin, der unter den Uhrmachern des Jura einen sehr großen Einfluß hatte und auch als Begründer anarchistischer Bewegungen in Spanien gelten kann. Aber keine dieser Strömungen konnte zur politischen Bedeutung gelangen. Denn sie wurden vom sogenannten Marxismus, d. h. dem von Marx begründeten Sozialismus erdrückt und überwuchert und besaßen nicht die nötigen volkswirtschaftlichen Erkenntnisse, um ihre Ablehnung des heutigen Staates und der heutigen Wirtschaftsordnung durch einleuchtende und wirtschaftlich richtige Vorschläge zu ergänzen. Sie blieben in der Sehnsucht nach einer harmonischen Verbindung von Freiheit und Ordnung stecken, weil sie den Zusammenhang der gesamten Wirtschaft nicht verstanden. Ansätze zu solcher Erkenntnis waren schon längst vorhanden, besonders bei Proudhon; aber es ist das Verdienst Gesells, den Weg zu einer natürlichen Wirtschaftsordnung aufgezeigt zu haben. Dieser edle, wirtschaftlich vertiefte Anarchismus steht vor einem neuen Aufstieg; denn was Anarchie im schlimmen Sinne ist, nämlich Unordnung, Gewalt und Unterdrückung jeglicher Freiheit, das zeigen die «Ordnungsstaaten». April 1937